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Joni Eareckson Tada

Ich möchte Christus kennen

"Papa, wann bekomme ich endlich einen Rollstuhl?" Der fünfjährige Matthias sieht seinem Vater ins Gesicht. Seine blanken braunen Augen haben einen bekümmerten, bittenden Ausdruck. Matthias und sein Bruder Stephen gehörten mit ihren Eltern zu den Freiwilligen, die eine Woche lang beim JAF-Familientreffen mithelfen. Sie hatten sich mit Dutzenden von jungen und Mädchen angefreundet, die Krücken, Gehgestelle und Rollstühle benutzen. Ich lachte, als Jim, der Vater von Matthias, mir von dem Wunsch seines Sohnes berichtete. Dieser junge braucht keinen Rollstuhl. Er hat keine Verwendung dafür. Aber versuchen Sie mal, ihm das klarzumachen!

Matthias würde einen Rollstuhl an erster Stelle auf seinen Weihnachtswunschzettel schreiben. Für ihn bedeutet ein Rollstuhl, daß er damit herumkutschieren kann. Er bedeutet aber auch, in einen wunderbaren Club eingeführt zu werden: zu der besonderen Gruppe von Kindern, die besonders eng mit Joni befreundet sind. Dieser Fünfjährige hatte keine Ahnung von Schmerzen und Lähmung, von dem Leid und den Schwierigkeiten. All das berücksichtigte er nicht; auf die dunkle Seite achtete er nicht. Alles, was er sich wünschte, war die Gelegenheit, mit meinen besten Freunden zusammen zu sein, sich mit mir zu identifizieren, wie ich zu sein. Wenn man dazu einen Rollstuhl braucht, wunderbar. Dann möchte er einen haben.

Es bedarf eines Kindes wie Matthias, um mir klarzumachen, was Paulus meint, wenn er sagt: "Ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein" (Phil 3,8-9). Matthias wollte einem Club angehören, doch die Gemeinschaft des Leidens Christi ist kein eingeweihter Kreis von besonders Frommen. Das Wort Gemeinschaft im ursprünglichen Text ist koinonia - das Erlebnis, etwas Gemeinsames zu teilen.

Daran hatte der Apostel Paulus gedacht, als er schrieb: "Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden; sein Tod soll mich prägen" (Phil 3,10)- Man kann förmlich die Erregung in seiner Stimme hören, kann seine Augen sehen, kummervoll und bittend, wie die Augen des kleinen Matthias. Paulus achtet nicht auf die dunkle Seite, das Leid und die Schwierigkeiten. Wenn es Leiden bedeutete, gut. Er wird es annehmen. Um Christus zu erkennen, wird er alles hinnehmen. Gott hatte sich für die Menschen weder Schmerzen noch Tod erhofft, doch als sie durch den Sündenfall in die Welt kamen, als sich Adam für das Leiden statt für die Freude der Gemeinschaft mit Gott entschied, machte Gott aus dem Leiden etwas, mit dessen Hilfe der Mensch Gott besser kennenlernen kann. Paulus hatte das verstanden. Christus will ich erkennen!

Das Wort "erkennen" bedeutet eine warme, intime und tiefe Verbindung zu haben; so wie im Buch Genesis, wo es heißt, "Adam erkannte Eva" (Gen 4,I). Es ist ein geistliches Bild körperlicher Vereinigung. Paulus wollte Jesus nicht nur mit dem Verstand erkennen; er wollte ihn in seinem Herzen, in seinem ganzen Sein erleben. Er wollte nicht nur Gottes gute Laune genießen und sich an seiner Freude ergötzen, sondern die Leidenschaft der Umarmung Gottes spüren, die ihn ergreift und mit ihm zu einer Einheit verschmilzt, die niemals zerstört werden kann.

Wenn man derartig mit Gott verschmilzt, weiß man nicht nur über Gott Bescheid, sondern man kennt ihn - kennt sein Innerstes.

Paulus wußte, daß es mit Leiden verbunden war, wenn das Herz Gottes mit seinem Herzen verschmelzen sollte. Daß es bedeutete, niemals auf sich selbst zu weisen, sondern Gott zu ehren und zu verehren; mit Gott in den Schützengraben zu steigen, um gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen, dorthin zu gehen, wo ihre Herzen zusammengeschweißt werden konnten.

Das ist der wahre Gemeinschaftsgeist. Wenn wir mit Gott im Schützengraben liegen, wissen wir, warum wir ihm vertrauen. Warum sollten Sie kein Vertrauen in den haben, der Ihnen im Gefecht den Rücken deckt? Gott zu kennen heißt, von dem unstillbaren Bedürfnis frei zu sein, genau verstehen zu müssen, was er tut, bevor wir ihm vertrauen. Menschen, die diesen Gemeinschaftsgeist besitzen, sind die glücklichsten Menschen der Welt.

Diese Menschen kennen den wirklichen Feind. Sie wissen, daß Gott niemals die Munition ausgeht - daß es immer genügend Gnade gibt. Sie wissen, daß Gott sie niemals im Stich lassen wird. Sie kennen sein Erbarmen, wenn sie versagen, seinen Schutz und seinen Frieden inmitten der Schlacht, sein Mitleid für die Leidenden.

Sie sind davon überzeugt, daß Gott mit ihnen im Schützengraben ist.

(aus: Joni Eareckson Tada, Steven Estes: Wie das Licht nach der Nacht)

 

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