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Eure Sorge hält mich fest

Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2,41-50)

A. Jesu Eltern zogen jedes fahr am Osterfest nach Jerusalem.Als Jesus zwölf Jahre alt war, gingen sie der Festsitte gemäß wiederdorthin. Bei der Heimkehr fehlte Jesus und sie suchten ihn bei Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, suchten sie ihn in Jerusalem.

jedes Jahr waren die Eltern Jesu der Sitte gemäß zum Fest gepilgert. Das Kind war in diese Gewohnheit miteinbezogen, selbstverständlich.

Zwölf Jahre des Lebens ziehen zugleich vor unserem inneren Auge vorüber, Jahre, die unsere Kindheit umschließen. In ihnen hat sich Familie wie ein unauslöschbares Gebilde in die Seele eingebrannt, die Bilder von Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Tante, Onkel, Oma und Opa. In das Muster dieses Teppichs war auch ich eingewoben, gehörte dazu. Selbstverständlich ist das Kind dort zu suchen.

Bin ich noch heute dort zu finden?

 

Was ist mir von Kindheit an zur Gewohnheit geworden? (vgl. Mk 9, 2 1; 10, 20.)

Da geht etwas jahrelang gut, wird von mir (mit)vollzogen ohne jede Frage. Plötzlich geht es nicht mehr. Da gibt es auch in meinem Leben ein Ereignis, mit dem die Kindheit aufhörte ... Es lag vielleicht schon sehr früh - oder sehr spät, so daß ich manchmal zweifle, ob ich nicht auch jetzt noch mit den Eltern ziehe, der Sitte gemäß' ...

 

Sie fanden ihn im Tempel mitten unter den Lehrern, die über ihnstaunten. Da sie ihn erblickten, waren sie fassungslos und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, deinVater und ich suchten dich mit Schmerzen!

 

Sie fanden ihn, wo sie ihn nicht erwartet hätten und sind entsetzt.

Eigenartig diese Szene: Jesus, der "Knabe", unter Erwachsenen, die über seine Art zuzuhören und zu fragen staunen, und die außer sich geratenen Eltern. Sie können diese Bewunderung

nicht teilen; denn sie sind ganz auf ihren Schmerz konzentriert, den ihnen ihrem Gefühl nach das Kind zugefügt hat. Deshalb hören sie auch nicht zu und lassen sich nicht fragen, sondern fallen über Jesus mit der empörten Frage her: "Wie konntest du uns das antun, uns deinen Eltern?"

Es ist an dieser Stelle hilfreich, sich das Gesicht der Mutter zu vergegenwärtigen, ihren von tiefster Enttäuschung und Traurigkeit gezeichneten Blick einige Momente auszuhalten. Kenne ich ihn?

Spüre ich noch die Macht dieses Blickes, der mich bei einer Gebotsübertretung ertappt?

Trifft mich wieder die Schärfe des (selten deutlich ausgesprochenen) Vorwurfs, daß ich den Gehorsam zu verletzen wage und daß ich nicht so bin, wie es die Mutter sich wünscht?

"Warum hast du mir das angetan?'

 

Er sprach zu ihnen: , Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihrnicht daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?' Sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sprach.

 

Wenn sie gewußt hätten, wohin Jesus wirklich gehört, hätten die Eltern ihn nicht zu suchen brauchen.

Aber wie sollten sie auch verstehen, daß die Familie nicht der eigentliche Ort der Zugehörigkeit für den Menschen ist, daß er bei allem kindlichen Gehorsam (vgl. Lk 2,51) doch dort nicht hinge-hört. Wohin aber dann? Wo sollte er sich fest-machen und bergen, wenn nicht im Raum des elterlichen Hauses?

Sie verstanden nicht und wir verstehen - wenn wir ehrlich sind, auch nicht. Mag sein, daß da eine Ahnung in uns ist, daß andere und eigentlich auch wir uns selbst immer an falschen Orten suchen und so nicht finden können; daß unsere Heimat nicht dort ist, wohin Gewohnheit und Gefühl uns ziehen, sondern dort, wo noch niemand war' (E. Bloch). Es sind nicht nur die Eltern, die uns nicht finden und erschrocken sind, wo sie uns antreffen. Wir selbst verfehlen uns, weil wir irregeleitet sind durch Lichter, die unentwegt aus der Kindheit her funkeln und die uns im Hafen festhalten statt den Weg auf die hohe See freizugeben.

Es braucht Zeit, viel Zeit, um ein Stück weit zu verstehen (Lk 2, 5 1).

 

B. Das zwölfte Lebensjahr markiert das Ende der Kindheit, die Zeit, in der wir uns mehr oder weniger ungebrochen von den Eltern her definieren. Die Familie, Elternhaus und Verwandtschaft, ist der Raum, in dem die erste Antwort auf die Frage gegeben wird: Was muß ich tun, um das Leben zu erwerben? "Leben" aber heißt für das Kind: Geliebtwerden, zu erfahren, daß ich wertvoll bin. Um Leben zu erwerben, muß das Kind sich so verhalten, daß es die Wertschätzung der Eltern nicht verliert. Generationen über Generationen lang war deshalb die Haupttugend des Kindes der Gehorsam. Was die Eltern sagen, ist richtig und ich handle gut, wenn ich es (möglichst sofort) tue. Ihnen zu widersprechen, widerspenstig zu sein, ist nicht nur falsch, sondern macht mich böse ("Du bist ein böses Kind!') und solche Verhaltensweisen müssen mir ausgetrieben werden:

 

Wer seinen Sohn liebt, hält stets den StockAr ihn bereit ... Werseinen Sohn züchtigt, wird Freude an ihm haben, und im Bekanntenkreis wird er seinetwegen gerühmt werden' (Jesus Sirach,30,1-2).

 

Die Rigorosität, mit der im Judentum das Gehorsamsgebot galt (vgl. Ex 20,12; Dt 5,16), hängt sicher auch damit zusammen, daß das Kind (wie die Frau) Eigentum des Mannes war, der schwere Verstöße gegen das vierte Gebot mit dem Tod bestrafen konnte (vgl. Dt 21,18-21; Ex 21,15.17; Lev 20,9). Das scheint in unserer "aufgeklärten' Gesellschaft undenkbar. Aber die Biographien vieler seelisch kranker Menschen beweisen das Gegenteil. Das Gehorsamsgebot führte bei ihnen zwar nicht zum physischen, aber zum seelischen Tod. Beispiele dafür würden ein Buch füllen.

Der Hauptgrund dafür liegt darin, daß die Projektion des Bösen auf das Kind und die Bekämpfung und Vernichtung negativer Eigenschaften an ihm ungebrochen unter dem Stichwort "Erziehung" andauert. Daß das Kind die lebenswichtige Zuwendung nur um den Preis erkaufen kann, daß es sich schuldig fühlt ist der Wurzelgrund vieler Neurosen. Den Eltern lebenslang etwas schuldig geblieben zu sein gehört zu den stärksten Fesseln,

die uns an sie binden.

Auf den ersten Blick scheint das Neue Testament, von dein wir uns ja im Prozeß der Heilung entscheidende Hilfe er-warten, gerade hier im Stich zu lassen, wohin die Psychoanalyse ihr besonderes Augenmerk richtet: bei der Aufarbeitung und Aneignung der Kindheit. Über Jesus als Kind wissen wir so gut wie nichts. Was die "Kindheitsgeschichten" (Matthäus/Lukas) berichten, ist formelhaft, ohne biographischen Wert.

Aber dieser erste Eindruck täuscht, wie wir noch sehen werden, weil uns das durch die Her-kunft gebundene Kind dort im Neuen Testament begegnet, wo wir sie nicht gesucht hätten (siehe Kapitel 5).

Ein gewichtiger Aspekt dieser Bindung wird uns an unserem Text allerdings bereits deutlich vor Augen geführt. Es ist die uns festhaltende Traurigkeit und Enttäuschung der Eltern durch unseren Ungehorsam.

Die Lebensgeschichte von Menschen, die zur Therapie kommen, läßt vor allem zwei Komponenten hervortreten: Einmal das Erschrecken, ja Entsetzen der Mutter über das Kind, das sie bei unmoralischen' Handlungen ertappt, und die Traurigkeit über die Undankbarkeit des Kindes, falls es wagt, an der Güte der Eltern zu zweifeln. Hans Böhringer spricht von einem "Katastrophengefühl', welches das Kind empfindet, wenn es sich beim Spiel mit den Genitalien ertappt findet, ein Gefühl des Verachtetwerdens, das vom Menschen sehr früh verdrängt wird. Die fehlende Selbstannahme gerade im Bereich der Sinnlichkeit beim Erwachsenen hat deshalb zur Folge, daß auch der heranwachsende Mensch sich nicht voll bejahen kann und (bei aller zur Schau getragenen Freizügigkeit) unbewußt seine Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit ablehnt. Daß in jeder Therapie "sexuelle Probleme' eine große Rolle spielen, hat hierin seinen tiefsten Grund. Es ist überflüssig, hierfür weitere Beispiele anzuführen. Die psychologische Literatur bietet sie zu Genüge. Fast noch verhängnisvoller ist jedoch das Fortwirken des vierten Gebots in der Auslegung: Du sollst davon überzeugt sein, daß es Mutter und Vater immer gut mit dir meinen. Deshalb mußt du ihnen in deinem Herzen einen Thron errichten und dafür nie an ihrer Liebe zweifeln."

 

Alice Miller hat in ihren Büchern die Folgen dieser über Generationen verinnerlichten Devise an verschiedenen Biographien dargestellt. Entscheidend ist dabei, daß eine innere Auseinandersetzung mit den Eltern vermieden wird, so daß die lebensnotwendige Trennung von ihnen nicht gelingt.

Einem in einer lebensbedrohenden Depression gefangenen Mann schrieb der Vater zu dessen 21. Geburtstag.

 

"Es gibt im Menschenleben keine schönere und glücklichere Zeitals das Heranwachsen und Heranreifen in der Obhut und Betreuungder sorgenden und opfernden Eltern. Wenn auch die schwere Zeitmit all den vielen Kämpfen und Nöten die Eltern manchmal nicht so.froh und teilnahmsvoll erscheinen läßt, so mußt Du es auch herausgespürt haben, daß es für Deinen Vater und Deine gute Mutter nichtsHöheres gibt, als Ar das Glück und Wohlergehen der anvertrautenKinder bis zur letzten Hingabe besorgt zu sein. Jedes mahnendeWort ist von Herzen gut gemeint. Ich kann mir nichts Schlimmeresdenken, als einmal erleben zu müssen, daß ein Kind an der Liebe seiner Eltern zweifelt und manche wohlgemeinten Ratschläge als zuunzeitgemäß und veraltet ablehnt, ohne selbst die tiefsten Beweggründe erkannt zu haben ... "

 

Es bedarf keiner Begründung, daß auf einem solchen Hintergrund ein Klient die Kindheit vergoldet und lange braucht, um zu begreifen, daß dies eine Lüge ist.

Die Macht des traurigen Blicks der Mutter, schweigend ohne Worte, kann nicht überschätzt werden. Sie bricht im wahrsten Sinne des Wortes das Herz und zwingt, einen vielleicht genommenen Anlauf, fortzugehen, zu stoppen. Denn ,die Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr. Da besinnt sich das Kind, kehrt nach Haus' geschwind', wie es im Kinderlied heißt.

Jeder Schritt, das Leben selbstverantwortlich zu gestalten, wird so unterbunden. Wie das Schicksal so vieler Menschen zeigt, wird so aber das Leben selbst getötet.

Und doch kann all dies das Suchen nach Leben, nach dem größeren Leben, nicht endgültig ersticken. Das ist die einzige Hoffnung. Gerade die Krankheit zwingt uns, dieses Suchen nicht aufzugeben. Darin liegt ihre Chance. In der Tiefe der Seele hören wir: Weißt du nicht, daß dein Leben nicht deinen Eltern und auch nicht dir gehört, sondern dem Vater, der im Himmel, in der unbegreifbaren Mitte jeder Wirklichkeit, auch deiner, ist?' - -

,Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir!' (Ps 63,2.)

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