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Fruchtbare Einsamkeit

A. Solschenizyn: Krebsstation Gen 1,26-27

 

Doktor Oreschtschenkow, den Alexander Solschenizyn in seinem Arzt und Krankenhausroman Krebsstation beschreibt, war fünfundsiebzig Jahre alt und hatte ein halbes Jahrhundert als Arzt gearbeitet. In seinem Leben mußte er viele Verfolgungen erleiden. Die bedrückendste traf ihn, weil er standhaft auf seinem Recht beharrte, eine Privatpraxis zu führen, obwohl die meisten inzwischen streng verboten waren. Erst mit fünfundsechzig begann er ungehindert, das Leben eines Arztes zu führen, wie er es für richtig hielt.

Jetzt mußte er sich oft ausruhen. Wörtlich lesen wir: Nicht nur sein Körper brauchte die Ruhe, um Kräfte zu sammeln; seit dem Tode seiner Frau verlangte sein Inneres danach, sich schweigend zu versenken, losgelöst von allen äußeren Geräuschen, Gesprächen, geschäftigen Gedanken, sogar von allem, was ihn zum Arzt machte. Sein Inneres verlangte danach, sich gewissermaßen zu reinigen, zu klären. Und das regungslose Schweigen mit seinen ungezwungenen, schwebenden Gedanken gab ihm Reinheit und Klarheit zurück.

In solchen Augenblicken schien ihm der Sinn des Daseins - seiner eigenen langen Vergangenheit und kurzen Zukunft, seiner verstorbenen Frau, seiner jungen Enkelin, der Menschen überhaupt - nicht in dem zu liegen, womit sie sich hauptsächlich beschäftigen, wofür sie sich interessieren und wodurch sie berühmt werden, sondern nur darin, ob es ihnen gelänge, ungetrübt, unerschüttert und unentstellt das Bild der Ewigkeit in sich zu bewahren, das jedem mitgegeben ist. 'Wie das Bild des Mondes in einem ruhevollen Teich.'

 

Vgl. Alexander Solschenizyn, Krebsstation H, Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied und Berlin 1969, S. 165-187. Die zitierte Stelle S. 186f.

 

Warum bestand Doktor Oreschtschenkow darauf, seine Privatpraxis weiterzuführen? Weil ihn ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem medizischen Wissenschaftsbetrieb einer Klinik erfüllte. Zu gut konnte er nachempfinden, daß sich der kranke Mensch gehemmt fühlt, wenn es für ihn nur noch einen Spezialisten gibt, der Professor ist und sich nur auf seine kranken Teile versteht. Deshalb wollte er selbst nichts als Arzt sein. Und er war es mit Leidenschaft. Entscheidend kam es ihm darauf an, den Patienten in seiner psychologischen Ganzheit zu begreifen, das heißt, ihm von Mensch zu Mensch zu begegnen. Es spricht für das tiefe Einfühlungsvennögen Alexander Solschenizyns, daß er den Arzt auch die Voraussetzung zur Sprache bringen läßt, ohne die eine solche Betrachtungsweise des Menschen nicht möglich ist: Um den anderen in seiner Ganzheit sehen zu können, muß man sich selbst als ein Ganzes verstehen. Dies gilt freilich nicht nur für einen guten Arzt; es gilt vielmehr für jeden Menschen, denn jeder Mensch sollte in einer gewissen Weise der Arzt des anderen sein. Er ist es, wenn er seinen Mitmenschen nicht nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt ins Auge faßt, sondern aus dem Erleben der eigenen Ganzheit den anderen als ein Ganzes zu begreifen sucht. Steckt nicht bereits in solchem Bemühen ein wesentlicher Sinn menschlichen Daseins?

Es erhebt sich hier die Frage, welchen Weg man gehen muß, um sich selbst in dieser Weise zu erfahren. Hierauf kann das innere Verlangen des alten Arztes nach stiller Zurückgezogenheit eine Antwort sein. Die Gründe, die ihn zur häufigeren Zurückgezogenheit veranlaßten, waren mit seiner augenblicklichen Situation gegeben: Der 75jährige brauchte Ruhe, um neue Kräfte zu sammeln; außerdem verlangte sein Inneres danach, seit seine Frau gestorben war. Indem er sich jetzt immer öfters von allen äußeren Geräuschen, Gesprächen, geschäftigen Gedanken, sogar von allem, was ihn zum Arzt machte, loslöste und sich in das regungslose Schweigen mit seinen ungezwungenen, schwebenden Gedanken versenkte, fand er zur inneren Reinheit und Klarheit und damit zu seiner ursprünglichen Ganzheit zurück. Das heißt also: der Weg zum Erlebnis dessen, was man im Ganzen ist, führt immer zu den Tiefen des inwendigen Menschen, die sich im regungslosen Schweigen reinigen und klären. In der stillen Zurückgezogenheit werden wir "Mensch", werden wir ganz Mensch. In ihr fällt alles Uneigentliche ab. Sie läßt uns zur vollen Wirklichkeit erwachen. Aus diesem Grund sprach Rabbi Mosche Löb, den Martin Buber in seinen "Schriften zum Chassidismus' erwähnt: Ein Mensch, dem nicht an jedem Tag eine Stunde gehört, ist kein Mensch." In dieser einen Stunde kommt es darauf an, sich von allem loszulösen, um sich selbst als ungeteilte Ganzheit zu vernehmen. Darin liegt ein weiterer Sinn, der uns zur Verwirklichung aufgegeben ist.

Aber damit ist noch nicht alles gesagt. In solchen Stunden der Zurückgezogenheit wurde sich Doktor Oreschtschenkow einer noch tieferen Sinngebung bewußt. Er erkannte, daß der eigentliche Sinn menschlichen Daseins nicht in dem liegt, womit man sich hauptsächlich beschäftigt; auch nicht in dem, wofür man sich interessiert oder wodurch man berühmt wird. All das macht den Menschen noch nicht zu dem, was er im Tiefsten und Letzten ist. Er liegt vielmehr darin, jenes Bild der Ewigkeit" ungetrübt, unerschüttert und unentstellt in sich zu bewahren, das jedem mitgegeben ist. Was Alexander Solschenizyn hier als Bild der Ewigkeit" bezeichnet, kennzeichnet das erste Buch der Heiligen Schriften als "Bild Gottes', das jeder Mensch ist und den Menschen zum Menschen macht. Es lohnt sich nachzuforschen, was damit über den Menschen gesagt wird.

In der ganzen Alten Welt gab es eine Fülle von Götterbildern. Ihnen wurde eine ungeheure Macht zugesprochen, denn in seinem Bild war der Gott auf geheimnisvolle Weise gegenwärtig. Deshalb war es nicht möglich, sich dem Götterbild auf direktem Weg zu nähern. In Ägypten führte eine lange Allee dorthin. Hatte der Fromme sie unter dem Anblick seltsam unheimlicher Tierbilder durchschnitten, so kam er vor das gewaltige Tempeltor. Ehrfürchtiger Schauer erfaßte ihn, wenn er, zwischen riesigen Säulen stehend, die Nähe des Gottesbildes erreichte. Er wurde der Heiligkeit des Ortes gewahr und vermochte nur noch in stiller Anbetung zur Erde zu sinken.

 

Im Gegensatz zur heidnischen Welt gab es in Israel keine Gottesbilder. Warum nicht, bleibt bis heute ein Geheimnis. Der alttestamentlichie Schriftsteller meint hierzu: Gott selbst hat sich seine Bilder geschaffen; jeder Mensch ist sein Bild, unüberbietbar in seiner Würde, weil nicht von Menschenhand gemacht, sondern von Gott selbst erschaffen. Weil der Abgebildete stets in seinem Bild gegenwärtig ist, deshalb ist jeder Mensch Zeichen der Anwesenheit Gottes. Wollte man Gott bitten, er möge ein Bild seiner selbst zeigen, so könnte er auf den Menschen deuten: So bin ich.' Von hier aus verdeutlicht sich aber noch etwas anderes: Wer ein Bild ehrt oder schändet, trifft unmittelbar auch den, den es darstellt ... Wenn der Mensch Gottes Bild in der Welt ist, dann kann niemand den Menschen angreifen, ohne zugleich Und unmittelbar auch Gott selbst anzugreifen.' So lesen wir beim Propheten Sachada: Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an . (Sach 2,12). Ähnlich sagt es Jesus: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!' (Mt 25,40)

Der Mensch vermag aber nicht nur Gott zu treffen, wenn er sich gegen einen anderen Menschen wendet. Er trifft ihn nicht weniger, Wenn er nicht jenes Bild der Ewigkeit" ungetrübt, unerschüttert und 4nelltstellt bewahrt, das ihm selbst mitgegeben ist. Wodurch - so wäre noch zu fragen - gelingt es, jenes Bild zu bewahren? In seinen Erzählungen und Romanen gibt Alexander Solschenizyn auf diese Frage immer wieder dieselbe Antwort: Es gelingt ihm durch sein Gewissen, das kostbarer als das Leben ist. In ihm spiegelt sich das Bild der Ewigkeit" und gibt so dem menschlichen Antlitz sein Licht und seine Schönheit. In der Erzählung "Matrjonas Hof' heißt es von der alten Frau, die als eine jener Gerechten geschildert wird, ohne die kein Dorf, keine Stadt und kein Land leben kann: Das vereiste Fensterchen im kurzer gewordenen Flur glitzerte rosig im rötlichen Sonnenschein des Wintermorgens, warm lag dieser Schein auf Matrjona. Immer haben die Menschen ein schönes Gesicht, die im Einklang mit ihrem Gewissen leben."

 

Gott sprach: "Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild, unsähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über dieVögel des Himmels, über das Vieh und über alles Wild des Feldes undüber alles Gewürm, das auf dem Erdboden kriecht!" Und Gott schufden Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn,als Mann und Frau schuf er sie.

Genesis 1, 2 6-2 7

 

 

 

 

 

 

 

 

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