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Das Kind im Erwachsenen

 

  1. de Saint-Exupery: Der kleine Prinz; Lk 10, 21-22

 

Der kleine Prinz begegnete einem Weichensteller und fragte ihn: Was machst du da?' "Ich sortiere die Reisenden nach Tausenderpaketen', antwortete ihm der Weichensteller und fuhr fort: "Ich schicke die Züge, die sie fortbringen, bald nach rechts, bald nach links.'

In diesem Augenblick raste ein Schnellzug an ihnen vorbei und ließ das Weichenstellerhäuschen erzittern. "Sie haben es sehr eilig', wunderte sich der kleine Prinz. "Wohin wollen sie?' "Der Mann von der Lokomotive weiß es selbst nicht", erwiderte ihm der Weichensteller, ratlos.

Kaum hatte er dies gesagt, da donnerte ein zweiter Schnellzug in die entgegengesetzte Richtung. "Sie kommen schon wieder zurück?' fragte der kleine Prinz erstaunt. "Das sind nicht die gleichen , klärte ihn der Weichensteller auf "Das wechselt." "Waren sie nicht zufrieden dort, wo sie waren?" "Man ist nie zufrieden dort, wo man ist', bemerkte der Weichensteller.

Mit hoher Geschwindigkeit sauste ein dritter Schnellzug an ihnen vorüber. Der kleine Prinz war erneut verwundert: "Verfolgen diese die ersten Reisenden?" "Sie verfolgen gar nichts', erklärte ihm der Weichensteller. "Sie schlafen da drinnen, oder sie gähnen auch. Nur die Kinder drücken ihre Nasen gegen die Fensterscheiben." Der kleine Prinz verstand. "Nur die Kinder wissen, wohin sie wollen", sagte er. "Sie wenden ihre Zeit an eine Puppe aus Stoff-Fetzen, und die Puppe wird ihnen sehr wertvoll, und wenn man sie ihnen wegnimmt, weinen', sie ..." "Sie haben es gut", stimmte ihm der Weichensteller nachdenklich zu.

 

Vgl. Antoine de Saint-Exupery, Der kleine Prinz, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf; o.J., S. 53f.

 

"Saint-Ex" - wie Freunde den Schriftsteller-Piloten nannten - möchte mit seinem Büchlein "Der kleine Prinz" das Kind im Erwachsenen ansprechen, um dem heutigen Menschen einen neuen Halt zu vermitteln und seinem Leben wieder Sinn und Richtung zu geben. Dabei ist er der Überzeugung, daß eine Erneuerung unseres Daseins nur gelingen kann, wenn wir uns jenes Kindes erinnern, das wir selbst einmal waren. Weil das Kind im Erwachsenen niemals stirbt, liegt eine Erneuerung zu jeder Zeit im Bereich des Möglichen. Es kommt einzig und allein darauf an, den Weg zum kleinen Prinzen' unserer eigenen Kindheit, zur kindlichen Reinheit und Weisheit, zurückzufinden. In der Widmung, die Saint-Exupery seinem Märchen für Erwachsene" vorausschickt, lesen wir: So will ich dieses Buch dem Kinde widmen, das dieser Erwachsene einst war. Alle großen Leute sind einmal Kinder gewesen (aber wenige erinnern sich daran).' Saint-Exupery sieht also die wahre Menschwerdung des Menschen in seiner fortwährenden Entwicklung zu wahrer Kindlichkeit. Sobald er aufhört, Kind zu sein, bricht sein Reifungsprozeß ab. Nur bei wenigen Menschen hat das Kindsein nie ein Ende: das sind die Heiligen, die Helden und die Dichter' (Luc Estang).

Die Schnellzugreisenden - und mit ihnen der Mann von der Lokomotive - haben aufgehört, Kinder zu sein. Sie haben keine Zeit mehr, irgend etwas wirklich kennenzulernen. An allem rasen sie vorbei. Weil man aber nur das kennt, was man sich vertraut gemacht hat, womit man Freund geworden ist und wofür man sich Zeit genommen hat, deshalb haben die Dinge für die Schnellzugsinsassen ihre Einzigartigkeit verloren. Die Welt besteht für sie aus einem bedeutungslosen Einerlei, bei dem es sich ihrer Meinung nach nicht zu verweilen lohnt. Durch diese Einstellung geht ihnen ihre eigene Einzigartigkeit verloren. Schlafend oder gähnend rasen sie in "Tausenderpaketen" in alle Richtungen, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich wollen, und ohne dort zufrieden zu sein, wo sie angekommen sind. Ober dieses Verhalten ist der kleine Prinz sehr verwundert, denn er dachte über die ernsthaften Dinge völlig anders als die großen Leute (36). Hier haben wir den Grund, weshalb Saint-Exupery an früherer Stelle schreibt: "Kinder müssen mit großen Leuten viel Nachsicht haben'(13). Kinder sind tatsächlich anders. Sie drücken ihre Nasen gegen die Fensterscheiben, um möglichst nahe bei dem zu sein, was sie sehen. Sie wissen, wohin sie wollen, und sind dort zufrieden, wo sie sind. Sie verstehen es, den Dingen im vertrauten Umgang ihr Geheimnis zu entlocken und so mit ihnen Freund zu werden. Sie verwenden ihre Zeit an eine billige Puppe aus Stoff-Fetzen. So wird sie ihnen wertvoll. Weil sie sich ihr ganz hingeben, ist sie ihnen einzig in der Welt. Sie fühlen sich für sie verantwortlich, denn das Kind weiß, daß man zeitlebens für das verantwortlich ist, was man sich vertraut gemacht hat. Deshalb weinen sie, wenn man ihnen die Puppe wegnimmt. Sie weinen nicht nur, weil sie ihnen Freund geworden ist, sondern auch, weil sie befürchten, es könnte ihr etwas passieren. Wahre Kindlichkeit erwächst also aus der Zuwendung zum einzelnen, das dadurch einzigartig wird und freundschaftlich bindet, bei dem man nicht nur mit den Augen, sondern mit dem Herzen verweilt; denn man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar(52). Darum weiß der kleine Prinz. Darum weiß auch der moderne Romancier Julien Green, der diesen Gedanken in seine ihm gebührende Tiefe zurückführt: "Gott spricht mit äußerster Sanftmut zu den Kindern, er sagt ihnen ohne Worte, was er ihnen zu sagen hat. Die Schöpfung liefert ihm das Vokabular, das er braucht, in Gestalt der Blätter, der Wolken, des Wassers, das vorüberfließt, eines Lichtflecks irgendwo. Es ist dies eine Geheimsprache, die man nicht aus Büchern. erlernt, die aber von Kindern trefflich verstanden wird ... Ich meinerseits habe gewußt, was Kinder wissen, und keine Logik der Welt hat dies Unsägliche mir je völlig nehmen können. Worte vermögen es nicht zu beschreiben. Es verbirgt sich unter der Schwelle der Sprache und bleibt auf dieser Erde stumm."

Der Weg zur wahren Kindlichkeit ist - wer sollte sich jetzt noch wundern - der von Jesus verkündete Weg zum Himmelreich: Ich sage euch, wenn ihr euch nicht bekehret und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen" (Mt 18,1-5). Denn es ist nicht der logisch geschulte Verstand, sondern "es ist das Kind in uns, das glaubt', schreibt Walter Nigg und fährt dann fort: "Man muß glauben, wie die Kinder glauben - sie sind die einzig wahren Metaphysiker -, nur dann wird der Glaube nicht vom Unglauben unterwühlt."2 So sind denn auch die Kinder die Träger lebendiger Gotteserfahrung. Ihnen bleibt sie vorbehalten - und solchen Erwachsenen, die in sich das Kind wiedergefunden haben und dadurch zu Unmündigen' im biblischen Sinn geworden sind. In ihrem unverbildeten Herzen erfahren sie, "daß Gott im Kleinen wohnt, der Weg zum Allmächtigen über das Kleine geht und im Kleinsten oft das Größte verborgen ist ... Die Unmündigen haben zur gegenwärtigen Stunde tatsächlich den Christen ein vordringliches Wort zu sagen, ein Wort, das den Menschen wieder das Unschaubare vor Augen rückt, ohne das niemand leben kann. Doch wäre es nicht richtig, wollte man allzu hohe Töne von ihnen anstimmen; dies würde ohnehin ihrem demütigen Wesen widersprechen. Gestattet sei höchstens der Zuspruch: Wollen Sie nicht einmal diese Unmündigen etwas näher anschaun?'3 Nur die persönliche Begegnung mit ihnen läßt uns etwas von ihrer Seligkeit und Ehrfurcht, von ihrer Kraft des Staunens erahnen.

In dieser Stunde rief Jesus voll Freude im Heiligen Geist aus: "Ichpreise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vorWeisen und Klugen verborgen, Unmündigen aber geoffenbart hast. Ja,Vater, so war es wohlgefällig vor dir. Alles ist mir von meinem Vaterübergeben. Niemand weiß, wer der Sohn ist, als nur der Vater, undniemand weiß, wer der Vater ist, als nur der Sohn und wem der Sohnes offenbaren will."

 

Lukas 10,21-22

 

 

 

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